Am frühen Morgen des 18. Oktober 2022 erfüllte Baulärm die Basilika des Grabes und der Auferstehung Christi, denn mit schwerem Gerät wurde ein ca. 6 Tonnen schwerer Stein aus dem „Gang der Jungfrau“ (Nordseite der Kirche zwischen der lateinischen Erscheinungskapelle und dem „Kerker Christi“) über den Kapellenkranz aus der Kirche befördert und über die engen, stufenreichen Gassen der Altstadt zum Museum der Franziskaner in der „Flagellatio“, dem „Studium Biblicum“, transportiert.
Der schwierige Transport wurde noch im Dunkel begonnen, gerade als die Kirche geöffnet wurde. So sollte vermieden werden, dass dieser schwierige Transport die engen Gassen im Suk (Bazar) blockiert. Was hat es mit diesem Stein auf sich?
Betritt man heute die Rotunde (Rundbau) der Grabeskirche, befindet man sich zwischen gewaltigen Säulen (7,15 Meter hoch), welche den eigentlichen Grabbau („Ädikula“, „Tempelchen“) umgeben. Man erwartet es sicher nicht, aber diese Säulen sind neueren Datums: die eigentliche konstantinische Rotunde mit einem Durchmesser von fast 34 Metern stammt, wie schon der Name sagt, aus der Erbauungszeit der Kirche. Diese Bauform gab übrigens vielen der Nachbauten des Heiligen Grabes ihr Aussehen. Im Laufe der Zeit wurden diese Säulen natürlich wie die gesamte Kirche durch Erdbeben und Feuer in Mitleidenschaft gezogen. Dazu kamen willkürliche Zerstörungen: Wir wissen zum Beispiel von der Zerstörungswut des Kalifen alHakim Biamrillah, der 1009 die Rotunde und die gesamte konstantinische Basilika zerstören ließ; im Nachgang berichtet Wilhelm von Tyrus, einer der bedeutendsten mittelalterlichen Geschichtsschreiber, dass alles zerstört wurde „bis auf das, dessen Zerstörung schwieriger war“. Dazu zählen wohl auch die Säulen der Rotunde, können die Archäologen doch bis zur Höhe von 12 Metern das konstantinische Mauerwerk – sorgfältig gehauene Quader – verfolgen. Gänzlich eingebaut werden die Säulen dann nach dem Brand von 1808, es wird berichtet: „Nach zwei Stunden stürzte die Kuppel über dem Heiligen Grab ein, riss die Galerien und einen Teil der Mauern mit fort und zerschmetterte die Säulen…“. Die Reste der Säulen – ihrer Tragfähigkeit beraubt – wurden dann in Pfeiler vermauert, so wie man es vor allem im westlichen Teil der Rotunde noch heute sehen kann.
In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als von den 3 in der Kirche vertretenen Gemeinschaften umfangreiche Restaurationen in Angriff genommen wurden, war die genaue Form der ehemals freistehenden Säulen nicht mehr genau bekannt, aber es gab eine sehr detaillierte Darstellung der Säulen in der „Ichnographiae Monumentorum Terrae Sanctae“ des Franziskaners Elzear Horn aus den Jahren 1724-1744, der uns auch eine genaue Zeichnung liefert.
Erwähnt sei an dieser Stelle, dass dieser Franziskaner aus der Thüringischen Franziskanerprovinz stammt und die letzten 20 Jahre seines Lebens im Heiligen Land verbrachte, wo er unter anderem an mehreren Stellen als Organist wirkte und uns so wertvolle Informationen über die damals vorhandenen Orgeln liefert.
Bei den besagten Renovierungen wurden die Informationen dieses Franziskaners herangezogen, um „neue“ Säulen und Kapitelle zu schaffen, so wie wir sie heute in der Rotunde des Heiligen Grabes sehen. Das Material für die rötlich schimmernden Säulen ist der „Melek-Stein“, der in der Gegend von Jerusalem und Betlehem vorkommt und seinen Namen ganz zu Recht trägt: „melek“ bedeutet so viel wie königlich. Es waren auch Arbeiter aus Betlehem, die diese Arbeiten ausführten. Reste der nicht mehr verwendbaren Säulen wurden nach Getsemani verbracht und standen lange Zeit im Garten des Klosters, bis im neu eröffneten Museum des „Studium Biblicum“ ein eigener Saal für die Bauteile aus der Grabeskirche geschaffen wurde.
Hier im Museum der Franziskaner fanden diese Bauteile nun also wieder zusammen, als der kolossale Säulenstumpf vor wenigen Wochen dorthin verbracht wurde. Ein 50-jähriges Provisorium fand damit ein glückliches Ende, und die Pilger können in Zukunft alles im ansprechenden Rahmen besichtigen.
Beim Transport des Säulenstumpfes war eine Pilgergruppe aus Deutschland unfreiwillig Zeuge: Gläubige der Pfarrei St. Anna in München waren gerade bei der Feier der hl. Messe auf Golgota als der Lärm des Transportes ihre Andacht störte; gleichzeitig waren sie so Zeuge einer „Heimkehr“ geworden.